Robert Walser

Das Ende der Welt

Ein Kind, das weder Vater und Mutter, noch Bruder und Schwester hatte, niemandem angehörte und nirgends zuhause war, kam auf den Einfall, fortzulaufen, bis es ans Ende der Welt käme. Mitzunehmen brauchte es nicht viel, einzupacken auch nicht, denn es besass keinerlei Habseligkeiten. Wie es stand, ging es fort, die Sonne schien, aber das arme Kind achtete nicht auf den Sonnenschein. Fort und fort lief es, an vielen Erscheinungen vorbei, aber es achtete auf keine Erscheinungen. Fort und fort lief es, an vielen Leuten vorbei, aber es achtete auf keinen Menschen. Fort und fort lief es, bis es Nacht wurde, aber das Kind achtete nicht auf die Nacht. Es kümmerte sich um den Tag nicht, und um die Nacht nicht, um die Gegenstände nicht und um die Leute nicht, um die Sonne nicht und um den Mond nicht und ebensowenig um die Sterne. Weiter und weiter lief es, hatte nicht Angst und nicht Hunger, hatte immer nur den einen Einfall, die eine Idee, nämlich die Idee, das Ende der Welt zu suchen und so lange zu laufen, bis es dasselbe gefunden haben würde. Es würde es am Ende schon finden, dachte es. «Ganz hinten, ganz zu hinterst ist es», dachte es. «Ganz zuletzt ist es», dachte es. Hatte wohl das Kind mit seiner Meinung recht? Wartet nur ein wenig. War das Kind von Sinnen? Ei, so wartet doch nur ein wenig, es wird sich schon zeigen. Fort und fort lief das Kind, es dachte sich das Ende der Welt zuerst als eine hohe Mauer, dann als einen tiefen Abgrund, dann als eine schöne grüne Wiese, dann als einen See, dann als ein Tuch mit Tüpfelchen, dann als einen dicken, breiten Brei, dann als blosse reine Luft, dann als eine weisse saubere Ebene, dann als Wonnemeer, worin es immerfort schaukeln könne, dann als einen bräunlichen Weg, dann als gar nichts oder als was es leider Gottes selber nicht recht wusste.

Fort und fort lief es. Unerreichbar schien das Ende der Welt zu sein. Sechzehn Jahre lang irrte das Kind herum, über Meere, Ebenen und Berge. Gross und stark war es inzwischen schon geworden, und immer noch hing es treu an dem Einfall, so lange zu laufen, bis es ans Ende der Welt käme, aber immer noch war es nicht ans Ende der Welt gekommen, schien vom Weltenende noch immer weit weg zu sein. «Ist das aber unabsehbar!» meinte es. Da fragte es einen Bauer, der am Weg stand, ob er wisse, wo das Ende der Welt liege. «Ende der Welt» hiess ein Bauernhaus in der Nähe, und daher sagte der Bauer: «Noch eine halbe Stunde weit liegt es.» Das liess sich das Kind gesagt sein, dankte dem Manne für die gute Auskunft und ging weiter. Als ihm aber die halbe Stunde schier ewig lang wurde, fragte es einen Burschen, der des Weges daherkam, wie weit es noch bis zum Ende der Welt sei. «Noch zehn Minuten», sagte der Bursche. Das Kind dankte ihm für die gute Auskunft und ging weiter. Fast am Ende seiner Kräfte war es angelangt, und nur noch mühsam bewegte es sich vorwärts.

Endlich erblickte es mitten in einer behaglich fetten Wiese ein schönes grosses Bauernhaus, eine wahre Pracht von einem Haus, so warm, ungezwungen und freundlich, so stolz, hübsch und ehrbar. Rund herum standen prächtige Obstbäume, Hühner spazierten ums Haus herum, ein leiser Wind wehte durch das Korn, der Garten war voll Gemüse, am Abhang stand ein Bienenhäuschen, das ordentlich nach Honig schmeckte, ein Stall voll Kühe war wohl auch vorhanden, und alle Bäume waren voll Kirschen, Birnen, Äpfel, und das Ganze sah so wohlhabend, fein und frei aus, dass das Kind sogleich dachte, das müsse das Ende der Welt sein. Gross war seine Freude. Im Hause wurde scheinbar gerade gekocht, denn ein zarter, artiger Rauch räuchelte und lächelte zum Kamin heraus, und stahl sich wie ein Schelm fort. Matt und bänglich vor Erschöpfung fragte das Kind: «Bin ich hier am Ende der Welt?» Die Bauersfrau sagte: «Ja, gutes Kind, das bist du.»

«Ich danke Euch für die freundliche Auskunft», sagte es und fiel vor Müdigkeit um; potz Blitz! aber es wurde rasch aufgehoben und von guter Menschenhand in ein Bett gelegt. Als es wieder zu sich kam, lag es zu seinem Erstaunen im allernettesten Bettchen und wohnte bei lieben guten Menschen. «Darf ich hier bleiben? Ich will tüchtig dienen», fragte es. Die Leute sagten ihm: «Weshalb solltest du das nicht dürfen? Wir haben dich gerne. Bleib nur hier bei uns, und diene tüchtig. Wir können eine schaffige Magd wohl brauchen, und wenn du brav bist, so wollen wir dich halten wie unsere Tochter.» Das liess sich das Kind nicht zweimal sagen. Es fing an fleissig zu werken und wacker zu dienen, und bald hatten es darum alle gern, und das Kind lief nun nicht mehr fort, denn es war wie zu Hause.


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